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Das frühe Werk. Band 3. Das Gleichgewicht der Unruhe. Deutsch und Chinesisch


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Titel:Das frühe Werk. Band 3. Das Gleichgewicht der Unruhe. Deutsch und Chinesisch
Autor:Kubin Wolfgang
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Wolfgang Kubin hat zwischen 2000 und 2014 dreizehn literarische Werke vorgelegt. Sein Jugendwerk (1970-1985) ist dagegen bislang nicht publiziert. Die etwa vier Bände sollen nun sukzessive erscheinen, um sich von dem Sinologen, Übersetzer und Schriftsteller ein Gesamtbild machen zu können.
Als erster Band erscheint die Sammlung Das Gleichgewicht der Unruhe (1976-1985), das die Berliner Jahre reflektiert: Häuserbesetzung, Frauenbewegung und die Rezeption der chinesischen Revolution.
Die meist kurzen Gedichte entstanden unter dem Einfluß der europäischen Moderne und der Tang-Dynastie (618-907). Sie sind Ausdruck der politischen sowie der geistigen Krise.
Verantwortlich für die chinesischen Texte: Hai Rao
185 Seiten, Zweisprachig Deutsch und Chinesisch, mit Lesebändchen, geb.

Der Autor
Wolfgang Kubin, chinesisch Gu Bin, geb. 1945 in Celle, Sinologe, Übersetzer, Schriftsteller, arbeitet nach seiner Emeritierung von der Universität Bonn als Seniorprofessor in Peking, lebt ansonsten in Bonn und Wien. Nach der Publikation von bisher 13 literarischen Werken in Buchform (Lyrik, Essay, Erzählung) seit 2000 hat er auf Anraten von Yang Lian und Walter Fehlinger begonnen, sein bisher unveröffentlichtes Frühwerk zusammenzustellen. Als Übersetzer chinesischer Literatur ist er Träger verschiedener Preise, u.a. des Johann Heinrich Voss-Preises (2013). Als Wissenschaftler hat er u.a. Die Geschichte der chinesischen Literatur in bislang neun Bänden (2002-2012) verfaßt bzw. herausgegeben.

Inhaltsverzeichnis
Das Ganze soll es sein. Eine Einführung zum frühen Werk
Das Gleichgewicht der Unruhe (1976-1985)
Vorrede
Mutmaßungen
Auch sie
Das Gleichgewicht der Unruhe
Körper zeichenlos
Achtlos
Rosa und Weiß
Steuerlos
Odyssee
Kinderwunsch
Wer hier lebt
Polizeiliche Liebe
Bücher und Steine
Unbetitelt
In die Augen gestochen
Aussichten
Wasserkinder oder sechsunddreißig Versuche zum Möglichen
Übersetzung: Hai Rao

Das Ganze soll es sein. Bemerkungen zum frühen Werk
Es hat in meinem Leben wunderbarerweise immer wieder denkwürdige Momente gegeben, so daß ich nie an den Zufall glauben musste. Hier wirkte und wirkt natürlich zusätzlich der Konfirmationsunterricht nach. Ende der 50er, vielleicht noch Anfang der 60er Jahre hörte ich in Salzbergen, einem katholischen Dorf an der Ems, von der Vorsehung. Pastor Becker aus der nahen Ortschaft Ohne eröffnete uns wenigern Kindern der evangelisch-reformierten Gemeinde, daß es das Wort Zufall in der Bibel nicht gebe. Alles sei in die Hand Gottes gelegt. Wir trafen uns über ein bis zwei Jahre einmal pro Woche nachmittags in den Räumen der Volksschule, die ich 1955/56 kurz besucht hatte, bevor ich zum Gymnasium Dionysianum ins ebenfalls katholische Rheine überwechselte. Der angrenzende Friedhof war da noch klein, und ich konnte nicht ahnen, daß dort einmal gut zwanzig Jahre später meine Mutter (1921-1977) neben meiner Großmutter (1889-1977) begraben sein würde. Salzbergen, wo mein Schreiben begann, blieb ich also bis heute verbunden. Allein die Grabpflege mahnt schon meine Rückkehr in einem jeden Jahr an.
Es fügt sich alles, wie es sich fügt. Einer der letzten denkwürdigen Momente, der mir Anlaß gab, mich an das über Jahrzehnte nicht angerührte Jugendwerk zu wagen, war eine Lesetournee mit dem heute in Berlin und London lebenden chinesischen Dichter Yang Lian (geb. 1955). Zwischen Ende Januar und Anfang Februar 2013 stellten wir seinen Gedichtband Konzentrische Kreise (Tongxinyuan) einem wunderbar geneigten Publikum in Literaturhäusern und in Konfuzius-Instituten vor. Die qualvolle Übersetzung, die bald ein Jahr zuvor bei Hanser erschienen war, hatte mich drei Jahre meines Lebens und manchen auch zur Sprache gebrachten Unmut gekostet. Zwischen Stuttgart und Düsseldorf waren wir insgesamt in sieben Städten unterwegs. Meist mit der Eisenbahn, weniger mit dem Flugzeug. Wo immer ein Aufenthalt drohte, ob in einer Bahnhofshalle, in einem Wartesaal auf dem Flughafen oder ganz einfach im Zug, ob im Stehen oder im Sitzen, der Dichter hielt seinen Klapprechner aufgeschlagen, mal auf den Knien, mal im Arm, nicht unbedingt auf einem Tisch, und er schien eifrig zu schreiben. Erst allmählich erklärte er mir auf meine Fragen, was ihn überall so sehr umtrieb. Er stelle gerade sein Gesamtwerk für einen Verlag auf dem Festland zusammen. Acht Bände sollen es werden, ja vielleicht sogar zehn. So habe er denn jede einzelne Ausgabe auf mögliche Druckfehler hin zu lesen, um gegebenenfalls das eine oder andere zu korrigieren.
Während seiner geheimnisvollen Tätigkeit lachte und spottete er immer wieder über sich selbst. Tai youzhi war seine liebste Wendung, um bestimmte Phasen seines Schreibens zu charakterisieren: zu unreif, zu kindisch, zu naiv! Er setzte mich damit nicht in geringes Erstaunen, denn er bezog sogar Gedichte aus dem Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre mit ein, also Werke, die ich nicht nur übertragen hatte, sondern auch äußerst schätzen gelernt hatte. Sollte ich mich in der Vergangenheit bei meiner Auswahl geirrt haben? Doch wir, die wir Literaturwissenschaft betreiben, wissen, man darf auf die Worte eines Autors, wenn er von sich selbst spricht, nicht viel geben. Unter- und Überschätzung sind bei der schreibenden Zunft gang und gebe. Gleichwohl fragte ich ihn neugierig, warum er denn Texte, zu denen er nicht mehr stehe, überhaupt edieren wolle. Erinnerte ich mich doch nur zu gut an ein Wort von Joachim Sartorius (geb. 1946), der mir einmal geraten hatte, alles, was in einem Keller liege, nicht mehr anzurühren. Damit meinte er, was als Geschriebenes oder als Entworfenes der Vergangenheit angehöre, was vielleicht das eine Mal bewußt oder unbewußt weggelegt worden sei, um es ein anderes Mal wieder hervorzuholen, all das solle für immer und ewig an seinem letzten Ort ruhen bleiben. Daran hatte ich mich über die zurückliegenden bald zwanzig Jahre einsichtig gehalten. Zu Unrecht? Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher. Und so wollte ich verständlicherweise wissen, warum denn er, Yang Lian, Vergangenes zu redigieren und damit wieder herauszugeben, geneigt sei, wo es ihm doch heute in meinem Angesicht den einen oder anderen Lacher koste? Seine Antwort kam für mich einer wahren Herausforderung nahe: Man habe als Autor die Pflicht, seine Entwicklung zu dokumentieren. Wenn die gewogene Leserschaft nur die vom Verfasser für gut befundenen Werke kenne, könne sie diese auf Grund des mangelnden Hintergrundes nicht richtig einschätzen. Das ganze Leben, das ganze Schreiben, das gesamte Werk, ja alles jemals aus heiterem Himmel Entworfene müsse es sein.
Ich begann plötzlich, an mein Frühwerk zu denken, das mittlerweile, d.h. seit 1985 im Bonner Keller ruhte und seitdem nie mehr von mir angefaßt worden war. Wie es die Vorsehung, nicht der Zufall wollte, lernte ich vor der Lesung mit Yang Lian in Wien den Verleger Mag. Walter Fehlinger kennen. Ob ich nicht für ihn etwas habe, wollte er zu meiner Verblüffung von mir wissen. Ich gestand, derzeit außer meinem frühen Werk, dem ich aus genannten Gründen skeptisch gegenüber stehe, nichts Unveröffentlichtes vorweisen zu können. Aus der einen Frage wurden viele Fragen, aus der einen Antwort ergaben sich viele Antworten. An deren Ende hatte ich über mich neu nachzudenken: Sollte ich weiter dem Berliner Freund aller Poeten, Joachim Sartorius, folgen oder nicht doch lieber Yang Lian? Sollten mir nicht Oskar Pastior (1927-2006) und Martin Heidegger (1889-1976) eine gehörige Warnung sein? Während der aus Rumänien stammende Dichter befand, selbst seine stalinistischen Preisgesänge gehörten in sein Gesamtwerk, entblödete sich der Philosoph aus dem Breisgau nicht, die Schwarzen Hefte zu einer abschließenden Publikation freizugeben. Hatte nicht auch ich den einen oder anderen möglicherweise verfänglichen Vers während der Kulturrevolution (1966-1976) verfaßt? Hatte ich nicht unter dem Einfluß der Frankfurter Schule Anfang der 70er Jahre politisch zu einfach gedacht und während meines Pekinger Jahres (1974-1975) nicht das Syndrom Ich weiß alles entwickelt? Sollte ich also tatsächlich den Versuchungen des Geschäftsführers von Bacopa erliegen? Ich entschied mich während des Gespräches bei dem von mir geliebten Veltliner auf dem von mir geliebten Neuen Campus der Universität Wien für das kritische Wagnis und begab mich alsbald im Februar 2014 auf die Suche nach meinem poetischen Vermächtnis. Ich wurde leicht fündig, denn alles hatte seinerzeit mit dem Umzug aus Berlin seinen sicheren Ort gefunden, wenn auch unfreiwilig längst unterstützt von Staub und Spinnfäden.
Wie schätze ich heute ein, was nun mitunter nach bald vierzig Jahren das Auge der hoffentlich kritischen Öffentlichkeit suchen wird? Ich gebe darüber jeweils im Einzelfall der in sich geschlossenenen lyrischen Sammlungen Auskunft. Es tut jedoch Not, das eine oder andere meiner jeweilig folgenden Einschätzung vorauszuschicken. Ich habe immer geschrieben, aber vor dem Jahre 2000 so gut wie gar nichts veröffentlicht. Was heißt immer? Und warum ein so langes publizistisches Schweigen von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen? Ein Schweigen, das selbst auf mein Publikationsverzeichnis übergreift: Während ich durchaus Lyrik und Prosa, die in Literaturzeitschriften wie Akzente oder Sprache im technischen Zeitalter erschienen ist, aufgelistet habe, verschweige ich weiterhin, was in frühen Anthologien wie Primanerlyrik (Peter Rühmkorf) oder Wir von mir abgedruckt wurde.
Ich hatte als Primaner während einer Tagung ein Gedicht von Martin Buber (1878-1965) gehört. Es trug den Titel Du. Ich ahmte, ohne es gelesen zu haben, nach, vielleicht verarbeitete ich es gar. Meine Fassung erschien in der Schülerzeitung Forum (Rheine). Weitere Gedichte bzw. Prosastücke folgten dort, eines unter dem Pseudonym Astrid Echternbusch (?). Keines von ihnen soll aber hier nachgedruckt erscheinen! Die damalige Tagung dürfte zum Thema Mensch um 1963 bei den Steyler Missionaren in St. Augustin am Rande von Bonn stattgefunden haben oder in Bad Oynhausen mit dem evangelischen Theologen Gustav Mensching (1901-1978). Auf jeden Fall sollte ich wenig später Redakteur der von einem rührigen Steyler herausgegebenen Zeitschrift Wahrheit werden, die sich an junge Autoren wandte. Ich hatte die Texte anderer zu begutachten, was ich leider mit einer gewissen Verbissenheit und Anmaßung tat. Wenn ich mich recht erinnere, war St. Augustin dann auch der jährliche Treffpunkt von jungen Schreibenden, die sich gegenseitig ihre Arbeiten vorlasen und sich kritisieren ließen. Manch einer von uns ist später ein bekannter Publizist oder Literat geworden.
Ich hatte also dank Martin Buber zu schreiben begonnen. Dieser jüdische Philosoph war nicht der einzige, der mich ein Leben lang begleiten sollte. Der zweite große Einfluß ging von dem Romanisten Hugo Friedrich (1904-1978) aus. Im Herbst 1964 las ich auf einer Bank des Celler Schloßparks dessen inzwischen auch ins Chinesische übersetzte Einführung zur Struktur der modernen Lyrik (1956). Dabei stieß ich auf einen Satz von Stphane Mallarm (1842-1898), dessen Sinn sich mir wie folgt eingeprägt hat: Man solle zwanzig Jahre schweigen, das heißt für die Schublade schreiben, wenn man gut werden wolle. Über lang wurde aus diesem von mir bald verinnerlichten Vorsatz ein Verstummen unterschiedlicher Art: Ich schrieb, aber veröffentlichte nicht. Bestenfalls brachte ich meine Texte im Selbstverlag heraus und gab sie meinesgleichen zu lesen bzw. trug sie auf den damals üblichen Gemeinschaftslesungen von Schülern und Studierenden vor. So mit dem Hamburger Alexander Schmitz (geb. 1946) und dem Münsteraner Michael Benke (geb. 1944). Der eine stand unter dem Einfluß von Ezra Pound (1885-1972), der andere unter dem von Gottfried Benn (1886-1956). Und ich? Ich war den spanischen, italienischen und französischen Dichtern der Moderne erlegen, wie ich sie bei Hugo Friedrich präsentiert vorgefunden hatte. Insbesondere geriet ich in den Sog von Saint-John Perse (1887-1975). Es folgten die blauen Gedichte. Das waren Poeme auf blauem Papier, mit schwarzer Tinte geschrieben. Sie waren keiner Logik verbunden, sondern ganz der unmittelbaren Eingebung im hymnischen Stil des Franzosen. Das Alogische war ihr Prinzip. Ich habe sie mit List und Tücke fast alle vernichtet. Dabei habe ich Schuld auf mich geladen, denn Barbara Brunn-Schulte-Wissing (geb. 1946), die noch etliche von ihnen in ihrer Rheinenser Wohnung besaß, lieh sie mir zum Kopieren, aber mit der Bitte um Rückgabe aus. Statt sie zu vervielfältigen, habe ich sie zerrissen. Ein vielleicht letztes Beispiel mag sich noch unter dem Titel Liebeslied im Forum finden. Nicht nur Barbara hielt, was ich ihr nie wiedergab, für meine beste Lyrik. Ich sehe das immer noch anders.
Die blauen Gedichte sind nicht die einzigen bis heute von mir verleugneten Texte. Es finden sich wie gesagt in gemeinschaftlichen Publikationen der frühen Jahre noch die einen oder die anderen Poeme, die hier ebenso wenig Aufnahme finden sollen. Ganz mag ich doch nicht Yang Lian folgen und lieber manches Mal ein strenger Joachim Sartorius sein.
Habe ich wirklich nur zwanzig Jahre geschwiegen? Eher wurden es wohl dreißig Jahre, begleitet von einer Schreibhemmung. Zwischen 1985 und 1988 habe ich nur ein einziges Gedicht und zwischen 1988 und 1994 nicht einmal einen einzelnen Vers verfasst. Dafür habe ich jedoch viel aus dem Chinesischen übersetzt und vor allem ab 1991 Essays zu schreiben begonnen. Doch warum folgen nun plötzlich seit 2000 fast alle zwei Jahre neue lyrische Werke in Buchform von jeweils über hundert Seiten, so daß manch Gutgesinnter wie Bei Dao (geb. 1949) meinte, mich warnen zu müssen? Ich schriebe zu viel und zu schnell. Meine Antwort war immer dieselbe: Wenn ich tot bin, kann ich nicht mehr dichten. Alles in mir verlangt jetzt sein Recht. Doch warum?
1998 war ich den Vorbildern entronnen, die mich als Leser begeistert, aber als Schreibenden zu guter Letzt gehemmt hatten. Ich meine zum Beispiel auch Georg Trakl (1887-1914), Karl Krolow (1915-1999) oder vor allem die klassische chinesische Dichtkunst. Ich bevorzugte nach dem Mann im Zimmer (1970) und der Konstruktion des Affen (1971) immer mehr die kurze Form, wo alles semantisch Überflüssige radikal gestrichen wurde. Es ging um das Bild, um das oftmals einzelne Bild im letzten Vers. Hier wirkte die chinesische Ästhetik des Mittelalters nach, welche die Poesie auf einen bestimmten Satz von wenigen, gleichsam klassischen Vokabeln beschränkte, sofern dieser ausreichend in der Lage war, das Gemeinte zu verstecken. Das Gleichgewicht der Unruhe ist die letzte Veranschaulichung dieser Art.
1998 sollte sich alles ändern, nachdem ich 1994 meine lyrische Sprache wiedergefunden hatte. Mein viertes Kind war zuvor im Januar (1994) geboren worden. Aus dem Tode, wie Richard Wagner (1813-1883) dramatisch sagen würde. Vier Jahre später war ich in Madison (Wisconsin), wo ich zwischen Februar und April einer Gastdozentur nachging. Mein Schreibtisch stand in einem alten Haus und war aus Kirschholz gefertigt. Meine Verse wurden länger und unerklärlicherweise narrativ. Leung Ping-kwan (Liang Bingjun, 1949-2013) wurde später nicht müde zu behaupten, durch ihn erst sei ich zum Dichter geworden, das heißt durch die Übersetzung seines Werkes. Das muß nicht unbedingt stimmen. Tatsache ist jedoch, daß er mich mit der Postmoderne in Berührung brachte, so daß ich immer mehr Grund fand, über das möglicherweise Kontingente aller Existenz nachzudenken und die Idee der Vorsehung weniger unhinterfragt zu bemühen.
Vielleicht gab aber etwas eher in der Sache meiner damaligen Tätigkeiten Liegendes letzten Endes den Ausschlag, meine verwaisten Kinder doch noch aus der Schublade hervorzuholen. Zwischen 1995 und 1999 war irgendwie ein neuer Gedichtband fertig geworden, ohne daß ich dies bemerkt oder beabsichtigt hatte. In der Zwischenzeit war ich Jahr für Jahr mit chinesischen Dichtern durch die Lande gezogen. Überall gab es überraschenderweise die Möglichkeit einer Lesung vor einem interessierten Publikum und vor allem einer wohl aufgenommenen Publikation meiner Übertragungen. So auch in Bonn. Nachdem Joachim Sartorius in Berlin bereits Jahre zuvor nebenher die Bemerkung hatte fallen lassen, ich müsse etwas Eigenes in der Schublade liegen haben, war es die Leiterin des Hauses für die Sprache und Literatur, Karin Hempel-Soos (1940-2009), die mich im Herbst 1999 bat, meine poetischen Schließfächer zu öffnen und ihr etwas zu lesen zu geben. Wenig später bot sie mir eine Lesung in ihrem Hause an. Zu meinem Erstaunen fiel ich nicht durch, das unerwartet zahlreiche Publikum quittierte meine Kostproben ohne Befremden. Die Meisterin der deutschen Sprache suchte einen Verlag und fand ihn in meiner neuen Heimat am Rhein. So erschien, von einer Vorstellung im Haus der Geschichte begleitet, mein erster offiziell präsentierter Gedichtband Das neue Lied der alten Verzweiflung (2000). Der Verleger Stefan Weidle (geb. 1953) protegierte mich bis zu meinem dritten Werk Schattentänzer (2004), ehe ich Ersatz finden musste, denn ich verkaufte mich nicht, wie er klagte. Bis heute liest man eher meine Übersetzungen oder wissenschaftliche Werke als meine literarischen Produktionen. Als Übersetzer bzw. als Wissenschaftler habe man nicht auch noch zu schreiben, lautet der sattsam bekannte Vorbehalt. Zumindest in deutschen Landen ist das so.
Und in chinesischen Landen? Da finden sich dank Übersetzung leichter die Käufer und die Leser, da komme ich nicht nur mühelos über die Marke von mindestens dreihundert abzusetzenden Exemplaren, die ein jeder deutscher Poet im Auge haben muß, um nicht seinen Verlag wirtschaftlich zu gefährden, ja, da bin ich sogar weit über dem verlegerischen Soll. Der Grund ist ganz einfach: Ein Literat (wenren) in China, ob Professor oder nicht, darf alles. Es gehört gar zu seinen Pflichten, sich in mehreren künstlerischen Genres gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen. Wenn ich also auch noch malen oder Kalligraphie üben würde, nähme mir das dort niemand übel. Nur in Deutschland ist man peinlich berührt. Dabei passt das eine zum anderen: Durch die Wissenschaft gewinne ich meine Themen, durch das Übersetzen erprobe ich die deutsche Sprache. Und wenn ich denn als Übersetzer meine Preise verdient haben sollte, warum fragt sich hierzulande anscheinend niemand, warum meine Übertragungen ihr Publikum finden? Fällt meine Sprache etwa vom Himmel? Oder wird sie nicht im täglichen Akt des Schreibens seit 2000 gefeilt?
Walter Fehlinger blickt weit. Er sieht etwas, was ich nicht zu sehen wagte: einen wachsenden chinesischen Markt für meine literarischen Werke. Darum hat er die chinesische Schriftstellerin Dehui Braun gebeten, ihre neue Heimat bei Frankfurt dank ihrer Übersetzungstätigkeit zu einem Heim neuer deutscher Lyrik zu machen. Es ist leider eine Tatsache, daß bislang kein einziger noch lebender deutschsprachiger Poet auf chinesisch in Buchform vorliegt außer mir. Meine Kollegen und ich haben dagegen Dutzende chinesischer Dichter der Gegenwart auf deutsch in oft prachtvollen Editionen einem wohlgesonnenen Publikum zugänglich gemacht.
Ich bin dank Verleger und Übersetzerin glücklich zu schätzen, denn aufgrund ihrer Unterstützung lerne ich mich neu kennen. Die Herausgabe meines Jugendwerkes erlaubt mir nämlich, die letzten fünf Jahrzehnte des Schreibens Revue passieren zu lassen und mein langes Schweigen für richtig zu befinden. Darüber hinaus zwingen mich die Übertragungen von Dehui, mein meist sehr kompliziertes Deutsch zu reflektieren und sprachliche Spielarten zu gewärtigen, die mir über die Zeit fremd oder gar wenig zugänglich geworden sind. Ich lese mich inzwischen selbst wie ein Teil meiner Leserschaft!
Bei der Redaktion des Jugendwerkes habe ich nur wenige Veränderungen vorgenommen, meist betrafen diese die Anordnung der Zeilen und weniger die alte Rechtschreibung, der ich immer noch anhänge. Ich habe auf Augenfreundlichkeit geachtet. Datierungen, wiewohl mir heute fremd, blieben in der Regel stehen, denn sie waren mir eine Brücke, um in die ferne Vergangenheit zurückzugelangen. Nicht immer habe ich mich an den jeweiligen Hintergrund zu erinnern vermocht, mochte dieser politisch oder privat gewesen sein. Alles in allem gilt für mich: Das lyrische Ich bin nicht ich. Ich ist ein anderer, ist eine Figur, welche zur Leserschaft über die Leserschaft spricht.
Das Deutsche ist eine schwierige Sprache. Trotz aller Bemühungen in den frühen Morgenstunden ich schreibe meist zwischen 5 und 7 Uhr bin ich nicht annähernd der Meister geworden, der ich hätte sein mögen. Angelika Singer vom Weidle Verlag und Marc Hermann, heute in Shanghai an der Tongji-Universität tätig, sind meine uneinholbaren Ratgeber in Sachen Deutsch. Sie waren nicht die einzigen, die mich über die Jahre mit ihrem stupenden Sprachverstand begleitet haben. Mit ihnen seien auch andere bedankt, die Sprache zu ihrem Lebensziel gemacht und mir Anteil gewährt haben.
Beijing Foreign Studies University, am 1. Mai 2014 Wolfgang Kubin

Das Gleichgewicht der Unruhe 1976-1985
Vorrede
Unruhe ist eigentlich etwas Gutes. Ohne Unruhe geht keine Uhr. Doch ein jeder sehnt sich zu Recht nach Ruhe. So ist die Kunst der Beruhigung auch außerhalb der Religion und des Denkens zu einem mitunter lukrativen Thema in der Moderne und in der Gegenwart geworden.

Ich selbst komme von der Philosophie und der Theologie her. All mein Schreiben ist daher ein philosophisches bzw. theologisches. Das betrifft selbst die sogenannten Liebesgedichte. Wie einem deutschen Dichter des Barock oder einem chinesischen Dichter des Altertums ist mir der Leib einer Frau meist nur der Anlaß zur Verhandlung von Offenbarung.

Die Literatur ist spät erst zu meiner dritten Geliebten geworden. Aus Einsicht, daß ich zu einem tiefen Denken nicht wirklich begabt genug bin und daß meine permanente Suche nach dem Heiligen mich nicht zum Gemeindepfarrer prädestiniert, habe ich mich letzten Endes der Dichtung verschrieben.

Literatur ist im Grunde genommen Meditation, die Vereinigung des Gedankens mit dem Göttlichen. Die Stille, ob in einer christlichen Kirche oder in einem buddhistischen Tempel erfahren, hat meinen Weg früh bestimmt. Als ich 1969 nach drei Monaten Aufenthalt aus Japan zurückkam, war ich meinem Wesen nach ein Mönch, der schrieb bzw. ein Poet, der meditierte. Nicht nur die Steingärten hatten es mir angetan.

Die Stadt Münster, wo ich schließlich lebte und Vater meiner ersten zwei Kinder wurde, war eine Fortsetzung, ja eine Erfüllung meiner meditativen Lebenshaltung. So sollte es eigentlich bis zum Ende meines Lebens bleiben. Selbst der Aufenthalt in Peking (1974-1975) während der Kulturrevolution konnte daran nicht viel ändern. Ich zog weiter von Tempel zu Tempel. Doch dann kam der Umzug 1977 aus der beschaulichen westfälischen Provinz ins rastlose West-Berlin. All meine Knabenmorgenblütenträume waren schnell ausgeträumt. Das erste Kind verlangte alsbald die Rückkehr ins kleine Hause, aber wir blieben vor Ort.

Berlin war damals eine Stadt der wilden und befreiten Frauen. Ich habe diese oft Raubfrauen genannt. Sie nahmen sich, was sie brauchten. Wir wollen alles und zwar sofort, lautete ihr Schlachtruf. Ein Mann war für sie nur ein Sprungstein zum nächsten, zum noch größeren Glück. Viele von ihnen, die ich bewundert habe, sind heute nicht mehr unter uns, vorzeitig dahingerafft von ihren zu hohen Erwartungen, vor allem an sich selbst.

Die folgenden Texte geben darüber Auskunft. Sie sind überwiegend während der Berliner Jahre (1977-1985) am Mehringplatz von Kreuzberg entstanden. Sie kleiden sich noch ganz in die Form, die ich dem japanischen Haiku, dem chinesischen Vierzeiler, aber auch Giuseppe Ungaretti (1888-1970) und Ezra Pound (1885-1972) verdanke. Alles ist reduziert auf wenige Wörter, Anspielungen gibt es kaum, das Vokabular ist beschränkt und verbleibt meist im Rahmen der klassischen Moderne bzw. der ostasiatischen Tradition.

Das Berlin der damaligen Zeit war ein Ort der Rebellion. Alles Feste löste sich auf. Berlin folgte darin Peking, ohne Orte der Meditation anzubieten. Blaulicht und Sirenen bestimmten den Alltag. Es waren die Jahre, da Häuser besetzt und Gegenuniversitäten gegründet wurden. Ich war ein Teil der Bewegung, ohne ihr wirklich je ganz anzugehören.

Die Datierungen der Texte aus damaliger Zeit befremden mich heute, ich verstehe sie oft nicht mehr. Ich habe sie dennoch beibehalten. Sie müssen einmal einen Sinn gehabt haben. Nur bei dem Zyklus Wasserkinder habe ich sie gestrichen und zusammengefasst, da ich für die letzten wohl sechs Poeme keine Daten eruieren konnte. Wasserkinder, das sei hier vermerkt, bezeichnen im Japanischen abgetriebene Kinder.

Berlin, das war die Erfahrung einer Krise, durch die ich nicht noch einmal gehen möchte. Am Ende war ich gebrochen. Ich hatte neu zu beginnen. Im Gegensatz zu den früh Verstummten ist dies mir vielleicht gelungen. Wenn ja, kein großer Triumph, eher ein Schmerz auf immer, den ich mit kaum jemandem teilen kann, am wenigsten mit den schönen Toten.

Bei der Redigierung der Texte habe ich die Verse mitunter augenfällig verändert und durch die Hinzufügung von Satzzeichen den Sinn für ein besseres Verständnis eingeengt. Mir erschien dies jedoch auch um meiner selbst willen von Nöten: Nach bald dreißig Jahren haben dunkel gewordene Strophen neu verstanden zu sein, und dies erfolgte über eine hoffentlich klarere Linienführung.
W.K. in Peking, am 4. Mai 2014

Der Autor
Prof. Dr. Wolfgang Kubin (chin. Gu Bin) wurde 1945 in Celle als Sohn eines Berliners und einer Wienerin geboren. Er begann mit 16 Jahren zu schreiben und zu veröffentlichen. Nach dem Abitur auf dem altsprachlichen Zweig des Gymnasiums Dionysianum in Rheine begann er 1966 das Studium der ev. Theologie an der Universität Münster.

Sein Interesse an Weltliteratur ließ ihn viele Sprachen lernen, so auch das Chinesische und Japanische an den Universitäten Wien, Münster und Bochum. Nach seinem Besuch von Japan im Jahre 1969 wechselte er von der Theologie zu den Fächern Sinologie, Germanistik, Philosophie und Japanologie. 1973 wurde er mit einer Dissertation über den chinesischen Dichter Du Mu (803-852) promoviert.

1974 ging er zum Studium der modernen chinesischen Hochsprache nach Peking. 1977 wurde er wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin, wo er sich mit einer Arbeit über die chinesische Naturauffassung 1981 habilitierte. 1985 erfolgte der Ruf an die Universität Bonn, wo er bis 1995 modernes Chinesisch und moderne chinesische Literatur unterrichtete.

1995 wechselte er zur klassischen Sinologie an derselben Universität. Seit seiner Emeritierung im Frühjahr 2011 arbeitet er als Seniorprofessor hauptsächlich an der Beijing Foreign Studies University.

Seine Forschung und Lehre umfasst die gesamte chinesische Literatur, die klassische chinesische Philosophie, die traditionelle chinesische Religion sowie Fragen der Germanistik und der deutschen Philosophie.

Seit Mitte der 70er Jahre ist er zunächst als Übersetzer und Wissenschaftler hervorgetreten. Seit 2000 auch verstärkt mit einem literarischen Werk, welches Lyrik, Essays und Erzählerisches umfasst. Für alle drei Lebenswerke wurde er verschiedentlich in China und in Deutschland ausgezeichnet.

Wolfgang Kubin ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt, wenn nicht in China, in Bonn und Wien.

Im BACOPA VERLAG erscheinen ab 2014 einige neue und bereits vergriffene Titel von Wolfgang Kubin.

Bacopaverlag