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Der Samen der Hiobsträne. Gedichte. Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin


Abbildung in Arbeit
Titel:Der Samen der Hiobsträne. Gedichte. Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin
Autor:Xiao Xiao
Preis:Euro 24.80
Bestellnummer:71940

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Xiao Xiao, geb. 1964 in Chengdu, lebt heute solo als Lyrikerin, Malerin und Publizistin in Peking. Sie ist eine politische Autorin, ein Seismograph der chinesischen Gesellschaft. Sie reagiert unmittelbar auf Tagesereignisse. Ihre Stärke liegt in ihrer Art des Tagesgedichtes, des Tagebuchgedichtes.

International wird sie bislang hauptsächlich als eine Schriftstellerin des Feminismus wahrgenommen, da sie es wagt, über sich selbst als Frau offen zu schreiben, entsprechend wird sie viel übersetzt, eingeladen und ausgezeichnet. Sie ist eine mutige Frau, die über ihrem waghalsigem Engagement nicht ihre tiefe Wärme für die Menschheit verloren hat.
112 Seiten, Lesebändchen, geb.

Inhaltsverzeichnis

Fünf französische Sonette
plus Prosagedicht

Vulaines-sur-Seine in F
Clermont-Ferrand in G
Aigues-Mortes in A
Rennes in C
Angers in D
Der Bucklige von Fontainebleau

Giftig sei mein Vers

Giftig sei mein Vers
Kälte ist ein Teil der Wärme
Anna Achmatowa
Dein Leben, dein Tod sind ein Hörensagen
Wintersonnenwende. Im Gespräch mit Bruder Meng Lang
Heute
Isolierter Hang
Auslassungszeichen
Der Wahrheit die Stimme genommen
Dichter ohne Namen auf einer Straßenüberführung
Die Zeit kann lügen
Ein naturalistisches Gedicht

Freudenbringer

Der Glanz des Grundes
Der Freudenbringer als Verbrecher
3. Juni 2014: Vorbei am Platz des Himmlischen Friedens
Eine Übergabe
Das beaufsichtigte Leben
Die Bruchstücke dieser Welt
Ein Gebet
Ich möchte um Vergebung bitten
Sanft, so ruft sich das Drachenbootfest
Noch leichter als ein fallendes Blatt
König Virus
Grabinschrift
Die Ränke eines Tages
Biographie eines einfachen Menschen
Rotweingeck

Bitte hintergehe mich

Ein Quadrat zu 99,9
Bitte hintergehe mich
Der Seele zugesprochen
Der Schneeleopard des Schmerzes
Das Paradies und der Spiegel
Ein Ass im Tennis
Eine halbe Zigarre
Ein Tropfen fällt in die Seele
Meine Gravitationswelle
Ein versehentlich abgefeuertes Sternchen
Das Elternhaus der Familie Song in Wenchang
Eine Metapher
Verleumdung des Frühlings
Der Vater und der Feigenbaum
Mütter oder Die argentinische Reise

Poesie, die vom Himmel fällt
Sunriver
Der Baumfäller
Nacht der Räuber
Gedicht auf Leben und Tod
Meine Gebärmutter ist voller Gram
Verweigerte Geburt
So leise der Wollbaum
Der Töpfervogel
Wider das Gesetz, wider den Tod
Klage einer Frühgeburt
Kalte Ohren
La Boca im Juni

Die Münchener Rede

Nachbemerkung von Wolfgang Kubin

Wenn keine Frauen mehr Frauen übersetzen, jedenfalls in der Sinologie nicht, müssen vielleicht weiter die Männer heran. Doch auch diese dürfen sich Fragen gefallen lassen: Warum überhaupt Xiao Xiao (geb. 1964) aus Chengdu, heute daheim in Peking, ins Deutsche retten? Dergleichen habe ich mir zumindest immer wieder von chinesischen Dichtern anzuhören, die sich für die absolute Weltspitze halten und oftmals auch zu dieser gehören.

Schlicht gesagt, ich höre aus dem, was sich mir schickt, einen neuen Ton heraus, den Ton einer mutigen Poetin, Malerin und Publizistin. Xiao Xiao befindet sich nicht im Schutz des Asyl gewährenden Westens, sie lebt weiter und zwar allein in ihrem Pekinger Appartement. Dort im Stadtteil Wangjing habe ich sie oft per Fahrrad aufgesucht. Sie war eine gute Gastgeberin. Sie liebt es, ihre Gäste zu bekochen und mit dem besten chinesischen Schnaps zu verwöhnen. Das letzte Mal (April 2018), bevor ich Peking verließ (Juli 2019), kam ich mit dem chinesischen Fernsehen. Eigentlich ging es um mich, aber ich verstand es, das Gespräch auf sie zu lenken. So waren alle Seiten glücklich.

Wir saßen in ihrem riesigen Wohnzimmer, welches mit ihrer Staffel, ihren Ölgemälden und den von ihr publizierten Büchern ausgekleidet ist. Was mir vor Ort immer wieder auffiel und über die Maßen gefiel war ihre Herzlichkeit, ja Wärme. Im Gegensatz zu ihrer Zunft fällte sie nie ein negatives Urteil über ihresgleichen. Nicht einmal über Liao Yiwu (geb. 1958), das Lieblingskind der deutschen Presselandschaft. Nur privat erzählte sie mir von den Machenschaften des Preisträgers des Deutschen Buchhandels (2012). Sein angeblich nach dem und auf den 4. Juni (1989) geschriebenes, überall zitiertes Gedicht habe sie vor dem fraglichen Datum publizieren helfen: Thema sei der deutsche Faschismus gewesen!

Der Bonner Dichter Ludwig Verbeek (geb. 1938) meinte einmal während eines Werkstattgespräches vor Ort, ich hätte das Tagebuchgedicht erfunden. Ich dagegen hielt bislang den Münchener Poeten Michael Krüger für einen solchen. Doch wie deuten wir die vielen Daten, welche unsere Literatin unter fast jeden ihrer Texte setzt? Diese haben eher einen politischen als einen autobiographischen Hintergrund.

Xiao Xiao ist eine Dichterin der Erinnerung. Ihr Urerlebnis ist der 4. Juni (1989), gemeinhin irrtümlich (die Ereignisse spielten sich anderswo ab) als Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens bezeichnet. Da sie eine Umdatierung und Vernebelung vornahm, konnte sie fragliche Gedichte in China veröffentlichen. Sicherheitshalber erfolgte meine Übertragung jedoch aus den Manuskripten, welche mir von der Autorin in den letzten Monaten zur Verfügung gestellt wurden.

Alle große Literatur beginnt bekanntlich mit der Erinnerung. Wer diese nicht zu seinem Ausgangspunkt macht, riskiert mit seinem Verweilen im Gegenwärtigen Langeweile. Und eben dies ist das Hauptproblem des Schreibens im chinesischen Sprachraum. Ich will das hier nicht weiter ausführen, denn die Dichterin gibt dank ihres Rückblicks uns hinreichend Gelegenheit, die Geschichte der letzten Jahrzehnte uns angelegen sein zu lassen. Am deutlichsten zeigt dies ihre Münchner Rede vom 22. November 2019. Ich habe mich hier für den Abdruck der dritten kürzeren Fassung entschieden, da die ersten beiden längeren Versionen den Charakter des Buches zu sehr verändert hätten.

Nochmals zurück zu der Frage, warum diese Autorin so prominent herausbringen und nicht weiter die international viel bekannteren und erfolgreicheren Dichterinnen wie zum Beispiel Zhai Yongming (geb. 1955) oder Shu Ting (geb. 1952)? Nun, ich denke, ich habe da meine Schuldigkeit schon getan. Es wurde für mich Zeit, einer anderen, einer für den deutschen Sprachraum neuen Stimme in größerem als bisher kleinerem Umfang zum Durchbruch zu verhelfen. Jedenfalls haben letztes Jahr die begeistert angenommenen Lesungen mit Xiao Xiao in Heidelberg, Berlin und München mir recht gegeben.

Wollen wir den inzwischen internationalen Erfolg unserer vielfach übersetzten Künstlerin charakterisieren, so bieten sich neben der Tagesaktualität (vgl. Corona) folgende Schlagworte an: die Bekenntnislyrik, welche dank der Amerikanerin Sylvia Plath (1932-1963), aber auch dank russischer Poetinnen, seit 1979, das heißt mit dem Beginn der Öffnungspolitik, Einzug in die chinesische Frauenliteratur gehalten hat; die Geschlechterrolle; die Zensur; die Gesellschaftskritik.

Ich habe einmal den von mir in Österreich verlegten (Thanhäuser, Bacopa) Pekinger Schriftsteller und Übersetzer Wang Jiaxin als einen Dichter des Menschen bezeichnet. Ich möchte von Xiao Xiao als einer Dichterin der Leiblichkeit und des Leidens sprechen, und zwar im guten, nicht im abgegriffenen Sinne. Sie redet über Dinge, die normalerweise tunlichst gemieden werden, sie thematisiert Abtreibung zum Beispiel, den Gefühlshaushalt, weibliche Wollust und die Folgen. Ich will das jetzt nicht weiter ausmalen, das Übersetzen hat mich hinreichend angegriffen.
Xiao Xiao ist eine Poetin des Engagements und der Solidarität. Sie ist offen und kosmopolitisch. Sie schreibt im Flugzeug. Manches scheint ihr leicht von der Hand zu gehen so wie einst dem Wiener Erich Fried (1921-1988), dem Mann der zehntausend Gedichte, des Agitprop. Vielleicht zielt Xiao Xiao tiefer, weil es ihr um die Einzelne in den Fängen des Einzelnen geht, dem ein Einzelnes entspringt, zum Tode verdammt.
Die vorgelegten Übersetzungen entstanden im Herbst von Shantou 2019 und im Winter von Bonn 2020. Ich hatte die Hilfe von Zhang Suizi wie üblich, die über ein tiefes Verständnis für die Komplexität chinesischer Gegenwartsliteratur verfügt. Mir lagen zu guter Letzt die Übertragungen von der quirligen zweisprachigen amerikanischen Dichterin (englisch / chinesisch) und Übersetzerin Jami Proctor-Xu vor. Diese hat mit ihren Mannen wohl eine Ausgabe unserer Xiao Xiao vorbereitet, welche noch nicht erschienen sein dürfte.

Die Auswahl, welche die Chinesin für mich traf, war jedoch eine ganz andere als die für die amerikanische Fachwelt. Überdies übersetze ich vollkommen anders. Da aber meine deutschen Kritiker in ihrer absoluten Herrlichkeit alles nach der Weltsprache Englisch und nicht nach dem Chinesischen bzw. Deutschen bewerten, beschweige ich den Rest.

Der Titel des Buches mag eigenwillig sein. Er geht auf ein Linsengericht im Text zurück. Als Theologe habe ich und als Frau hat Xiao Xiao viel mit Hiob gemeinsam. Die Anordnung der übermittelten Poeme entsprach meinem Verständnis, die Zeichensetzung aus meiner Feder ebenfalls: Unsere große Leidende schreibt ohne Punkt und Komma. Ich bedurfte der Orientierung für die Lesungen und vielleicht auch für die großmütige Leserschaft.

Wolfgang Kubin, Bonn Ende März 2020

Bacopaverlag