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Nachgereichte Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin


Abbildung in Arbeit
Titel:Nachgereichte Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin
Autor:Wang Jiaxin
Preis:Euro 19.80
Bestellnummer:71407

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Nachgereichte Gedichte
Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin

Inhaltsverzeichnis
Gedichte aus dem Oktober
Das Seelenboot
Am Bund von Shanghai
Ein Laden für Reisnudeln in Yunnan
In Berlin
Der Schreibtisch im Morgenlicht
Das Lied der Rosen
Die Wasser des Gelben Stromes
Oktobergedicht
Londoner Erinnerungen
Shijiazhuang gestern abend oder heute morgen
Nochmals zur Erinnerung an Chen Chao oder aus Dem Buch der Tränen
Welle auf Welle
Unterwegs im ländlichen Andong (Korea)

Unterwegs
In Changshu
Dieser Mai
Unterwegs von Luoyang nach Nanyang
Über der Taiwanstraße
Iowa. Dubike Street 1104

Nachgereichte Gedichte
Wintergedicht
Dunkelnde Spiegel
Ohne Thema
Kuckuck
Grenzen
Abendlandschaft / Lebensabend
Der Mönch Xuanzang in Kucha, 628 n. Chr.
Eine Pampelmuse
Nachtzug
Landschaft im Kleinen
Ein Nachgereichtes Gedicht
Der erste Schnee
Vom Bahnhof den Sohn abholen
Das Pagodenkloster
Auf Tinos
Inselklima
Aufzeichnungen zum Fischfangverbot
Gestern abend
Feiner Sand, grober Sand
Eine Hirtenflöte
Für Kertesz Imre
Nochmals ein Gedicht im Alten Stil
Der Baum von Tarkovsky
Dunkelkammer
An Neujahr geschrieben
Aus den Morgenstunden
Ein paar Ortsnamen
Aufzeichnungen von einer Reise zu den Äußeren Inseln namens Lingding
Geschichten vom Schiff
Austern
In jenem Jahr
Auf Schloß Duino
Eine Erinnerung an die Zukunft
In den russischen Filmen
Grabspruch
Beethoven
Eisfischer
Kurzer Abschnitt über den Winter
Große Mauer, offenes Land
Ein Schreibtisch für Marina Zwetajewa
Das Erwachen
Besuch des Andy Warhol-Museums
In New York
Gedichte für künftige Leser
Abendspaziergang
Pferde
Bei Du Fu daheim

Der Dichter des Menschen. Eine notwendige Nachbemerkung

Wenn wir von China reden, reden wir oft von der Wirtschaft oder von der Politik. Vom (einfachen) Menschen reden wir weniger. Wir? Uns sind Redeweisen vorgegeben. Meist aus den Redaktionsstuben der staatlich gelenkten Presse der Volksrepublik China, manchmal auch aus engagierten deutschsprachigen Tageszeitungen. Beide Seiten haben ihre (voreingenommene) Sicht. Die Dinge, die wir dabei erfahren, stimmen so, wie sie nicht stimmen müssen. Im Zeitalter der alternativen Fakten ist alles Reden und Schreiben doppelbödig, im guten wie im schlechten Sinne.

Halten wir uns dabei nicht auf. Sprache und Politik sind oftmals ein böses Ehepaar. Es bedarf der Wächter. Chinesische Schriftsteller sind nicht selten weiterhin angepaßt. Wenn im Verband (staatlich) organisiert, erhalten sie von oben schöne Zuwendungen und singen entsprechend in der Öffentlichkeit von den großen Zeiten (weida de shidai). Das betrifft leider auch mir liebgewordene und von mir übersetzte Zeitgenossen. Der Mensch ist schwach, nicht wahr? Gegenwärtige chinesische Autoren geben das schwächste Glied der Menschheit ab? Vielleicht! Aber nicht immer. Da sind die Ausnahmen. Die rühmlichen Ausnahmen am Rande. Und diese sind in keinem Schriftstellerverband organisiert. Sie gehen ihren eigenen Weg. Deshalb stehen sie am Rande der Gesellschaft. Mit dem, was sie aus Verantwortung für die Literatur kreieren. Mit ihrer Lyrik. Im Gegensatz zu den (nicht nur politischen) Aufbruchszeiten der 80er Jahre ist hohe Lyrik in China heute eine Randerscheinung. Wir müssen das nicht bedauern: Wer zu schreiben versteht, verkauft sich an keinen Markt, der seit 1992, seit dem Beginn einer sozialistischen Marktwirtschaft die Phantasie der Bürger in China fast zur Gänze einnimmt.

Der 1957 in der Provinz Hubei geborene, heute in Peking lebende und an der Renmin-Universität lehrende Wang (Familienname) Jiaxin (Vorname) ist kein Dichter großartiger Zeiten, er ist vielmehr ein Poet des (einfachen) Menschen, des leidenden Menschen, besonders der darbenden Frauen, aber er ist auch der Sänger des Alltags, des (unscheinbaren) Tieres, der Pflanze und der Frucht, kurz ein Dichter des Beiläufigen. Chinesische Literatur hat von ihren Anfängen an im kleinen das große gespiegelt. Dies hat erst mit dem Weidadaismus (weida: groß, größer, am allergrößten), also mit 1949 ein Ende gefunden. Seitdem gefällt sich selbst der Literat als Posaune nationaler Überspannung. Deswegen kann man es nicht hoch genug einschätzen, daß sich unser Dichter der Details eines strapazierten Lebens annimmt wie der Pampelmusen, der Hündchen, der Mütter und der Kinder. Statt maoistischen Blendwerks präsentiert er lyrische Realität, die, poetisch gestaltet, mehr sagt als die sprachlich unausgegorenen Postillen mancher (inter)national ausgezeichneten Parteigänger.

Der Berliner Dichter und Übersetzer Joachim Sartorius (geb. 1946) meinte einmal in einem Brief an mich, manche Verse unseres Poeten seien banal. Nun, der verehrte Joachim ist kein Literat der Song-Zeit (960-1279) und damit nicht unbedingt der Fürsprecher einer Ästhetik der Leere. Vielleicht hat er auch vergessen, was amerikanische Dichter wie Robert Creely (1926-2005) praktiziert haben: Um mit den Worten unseres chinesischen Kollegen zu sprechen, der wesentlich von der anglophonen Poesie herkommt: Es gelte beim Schreiben die Tiefe unter der Oberfläche zu verbergen. Man mag meinen, dies sei ein Verfahren, welches sich der amerikanischen Schule mit ihrem Schlagwort Close the Gab (1972) verdanke, also der Forderung, den Unterschied zwischen ernster und leichter Literatur aufzuheben.

Nun, Gary Snyder (geb. 1930) ist nur ein Beispiel, wie sehr die Poesie der USA in den 50er und 60er Jahren unter dem Einfluß einer chinesischen Dichtkunst stand, die nicht erst seit der Song-Zeit die einfachen Dinge eher prosaisch als lyrisch in den Mittelpunkt ihrer meditativen Betrachtung stellte: Schlichtheit, Sachlichkeit, Ursprünglichkeit (pingdan).

Das Kind, das eigene Kind, war mitunter schon seit der Tang-Zeit (618-907) plötzlich ebenso wichtig oder gar wichtiger noch als die idealisierte Schöne, ob heimisch daheim oder fremd in den (vornehmen) Häusern von Gesang und Tanz. Wang Jiaxin schreibt über seine beiden Söhne, ähnlich wie lange zuvor sein großes Vorbild Du Fu (712-770) die Nöte der Familie in Versen verdichtete. Beide große sich aufopfernde Väter! Apropos Opfer: Wang Jiaxin opfert sich immer nicht nur als eifriger Übersetzer, was ihn in der (faulen) chinesischen Literaturszene solitär macht, sondern gleichfalls als emsiger Organisator von Lesungen für inländische wie ausländische Gäste.

Kinder sind Menschen, Menschen haben einen Namen. So tauchen immer wieder lebende Personen namentlich aus dem Umfeld unseres Lyrikers auf, der übrigens auch als Essayist reüssiert. Wir müssen die Zeitgenossen nicht genauer kennen, aber uns interessiert zutiefst ihr Schicksal, insbesondere wenn sie - traurig genug - den freien Tod einem weniger freien Leben vorzogen. Daher die vielen Tränen im Werk. Männer weinen nicht, so haben wir gehört. Du Fu weinte immer. Wang Jiaxin reiht sich ein in die Kette der großen Weinenden. Bei der Lektüre und Übersetzung weinen wir mit ihm. Das heißt, Lesen und Übertragen sind eine Sache notwendiger Betroffenheit.

Wang Jiaxin ist nicht nur der Dichter des Menschen, sondern auch der Chronist der (chinesischen) Geschichte. Vor nichts hat heute der Chinese mehr Angst als vor seiner persönlichen Geschichte und der Historie seines Landes. Selbstbetäubung lautet das Motto. Die chinesische Nazi-Zeit, die Kulturrevolution (1966-1976), ist auf dem Festland Tabu. Historiker haben dort zu schweigen. Lediglich die Autoren dürfen fiktiv ihre literarische Sicht präsentieren. Aber auch da wütet der Zensor.

Als Historiker der mißhandelten Schöpfung und einer geknechteten Gesellschaft hat sich Wang Jiaxin nicht nur in seinen Gedichten und Essays der geschundenen Kreatur angenommen, sondern ebenfalls in seinen Übersetzungen. Da sind die liebsten Beispiele (Sowjet)russische Autoren und vor allem Paul Celan (1920-1970), also große Persönlichkeiten, die mit ihrem Sterben wahrmachten, was Wolfgang Leonhard (1921-2014) einmal mit folgenden Worten in seinem Standardwerk auf den Punkt brachte: Die Revolution frißt ihre Kinder (1955).

Daß alles Schreiben mit dem Gedächtnis bzw. mit der Erinnerung beginne, wissen wir auch aus China. Doch chinesische Literatur heute ist oftmals nur ein Werkzeug des kollektiven Gedächtnis, weniger ein Hilfsmittel zu persönlicher Erinnerung. Darum erscheint sie uns mitunter so langweilig.

Nicht schriftlich mag Wang Jiaxin es hinterlassen haben, aber mündlich hören wir ihn sich vielfach mit Paul Celan vergleichen: Er selbst sei wie der große deutschsprachige Dichter des Holocaust ein Jude (gewesen), das heißt als Kind ausgegrenzt, weil die Kulturrevolution seinen Vater als Großgrundbesitzer eingestuft hatte. Damit war er von allen vermeintlichen Segnungen der damaligen zehn chaotischen Jahre ausgeschlossen.

Es kann nicht ausbleiben, daß die Übertragung von Wang Jiaxin für den Übersetzer nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine persönliche Herausforderung darstellt. Der Dichter hat sich verwundert gezeigt, wie lange ich diesmal für seinen zweiten Gedichtband auf deutsch brauchte, wo ich doch den ersten (Dämmerung auf Gotland. Ottensheim: Thanhäuser 2011) in kürzester Zeit abgeschlossen hatte. Vielleicht grübelte ich drei Jahre über den Manuskripten und dachte an meine Kulturrevolution, da ich in einem smogfreien Peking bei oft blauem Himmel und berückendem Sonnenlicht ein Jahr lang modernes Chinesisch erlernte (1974/75). Vielleicht erging es mir wie dem Pekinger Literaturkritiker Tang Xiaodu (geb. 1954), der in der tiefsten Krise seines Lebens das Übersetzen als seinen größten Trost empfand. Nebenbei bemerkt: Wang Jiaxin mag ähnlich seinen Trost bei Homer (8. Jh.v. Chr.) und Dante, (1265-1321), bei Emily Dickinson (1830-1886) und Sylvia Plath (1932-1963) finden, vielleicht auch bei den Ortsnamen von Shandong, einer Provinz, die ihm zur Heimat geworden ist. Hat also alles Schreiben und Übertragen etwas Autobiographisches an sich? Ich plädiere eher für den Dialog. Es sind immer andere uns vorausgegangen. Diese haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Sie schrieben und sie übersetzten. Und sie erinnerten sich. So wie ich mich an den 10. August 2016, als ich morgens um 2 Uhr 30 längst aufgestanden, an den Texten arbeitete. Im Nachtprogramm des Westdeutschen Rundfunks spielte Glenn Gould (1932-1952) die Goldstein-Variationen in der Aufnahme von 1982, die ich durch den Dichter vor zehn Jahren und mehr in dessen Auto kennengelernt hatte.

Fassen wir uns kurz: Schreiben ist Krise und Trost, Übersetzen ebenfalls. Wir denken über unsere Kinder nach, die als Fleisch und Blut oder als Papier und Druckerschwärze unser Haus verlassen (haben). Wir bleiben einsam zurück und danken: Zhang Bingye (Bonnie Zhang), die mir an der Universität Shantou bei Fragen der Deutung zur Seite stand, George OConnell für die Gespräche über unseren gemeinsamen chinesischen Freund. Erst als mein Manuskript in einer sogenannten Rohform abgeschlossen war, erschien Darkening Mirror. New & Selected Poems. Wang Jiaxin. Tebot Bach: Huntington Beach 2016). Wenn in meinen Zweifeln, schaute ich in die Übertragung des amerikanischen Dichters und von dessen Partnerin Diana Shi nachträglich hinein. Wir hatten dieselben Probleme, denn nicht immer ist Wang Jiaxin so verständlich, wie er zu sein vorgibt. Und so wuchs mein Anspruch an mich selbst: Die deutsche Sprache ist nicht weniger leicht als die chinesische. Sie ist die Hölle, wenn man es gut mit ihr meint. Auch dies war ein Grund, warum die Arbeit am Text diesmal so viel Zeit in Anspruch nahm. Vielleicht dankt es ja die werte Leserschaft.

Die Übersetzungen entstanden hauptsächlich im Paradies der Universität Shantou und in der Idylle von Bonn-Holzlar. So fand Trost zu Trost.

Bonn, den 30.1.2017 um 3 Uhr 33 Wolfgang Kubin (Gu Bin)

Der Autor
Wang Jiaxin (geb. 1957) lebt heute als Professor für Ästhetik und Poesie (an der Renmin-Universität) in Peking. Er gilt als einer der wichtigsten chinesischen Lyriker und Essayisten.

Der Übersetzer
Wolfgang Kubin (chin. Gu Bin, geb. 1945) lebt und arbeitet zur Zeit in Peking, u.a. Übersetzer chinesischer Literatur und Philosophie.

98 Seiten, mit Lesebändchen, geb.

Der Autor
Wang (Familienname) Jiaxin (Vorname), geb. 1957 in der Provinz Hubei (VR China), ist ein weltweit bedeutender Dichter, Übersetzer, Literaturkritiker und Hochschullehrer (u.a. creative writing). Seit Ende seiner akademischen Karriere an der renommierten Universität des Volkes in Peking (Renmin Daxue) lebt er seit 2022 mit seiner Familie in den Vereinigten Staaten (Bundesstaat New York), kehrt aber regelmäßig in seine alte Heimat zurück.

Er entstammt ursprünglich einer sogenannten Großgrundbesitzerfamilie. Deswegen hatte er während der Kulturrevolution (1966-1976) besonders zu leiden. Gleichwohl gelang ihm 1982 ein Hochschulabschluß im Fach Chinesisch. Er war danach zunächst als Lehrer, dann als Redakteur verschiedener Journale und schließlich als Dozent an Bildungseinrichtungen tätig. Im Gegensatz zu den meisten chinesischen Autoren fühlt er sich der Vermittlung ausländischer Literatur verpflichtet, besonders der deutschen und der russischen. Hier richtet sich sein Augenmerk auf den in und an der jüngeren Geschichte leidenden Menschen. Er ist deshalb von seinem Übersetzer Wolfgang Kubin als Dichter des Menschen bezeichnet worden. Paul Celan ist in dieser Rolle sein vornehmliches Leitbild. Dessen Werk hat er bisher nahezu gänzlich über das Englische und mit Hilfe deutsch-kundiger Freunde ins Chinesische übersetzt.

Wang Jiaxin ist mit vielen Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet worden und stellt heute eine der wichtigsten poetischen Stimmen der Weltgemeinschaft dar. Er hat oft im deutschsprachigen Ausland über längere Zeit dank Stipendien gearbeitet, so auf Schloß Solitude bei Stuttgart (1997/98).

Eine neuerliche Lesereise führte ihn im Oktober 2017 gemeinsam mit Wolfgang Kubin nach Österreich und Deutschland wo er unter anderem am Montag, den 9. Oktober um 19.00 in der KLAVIERgalerie, Kaisersaal, Kaiserstrasse 10/2, 1070 Wien und am Samstag, den 14. Oktober um 15.00 auf der Frankfurter Buchmesse, Halle 5.1, A 128 vortragen wird.
Weitere Veranstaltungsorte dieser Lesereise sind Heidelberg, Darmstadt, Düsseldorf und Nürnberg.

VERDICHTETE SCHLICHTHEIT

Die meisten Europäer haben eine klischierte Vorstellung von der Mentalität der Chinesen, und nämlich, russisch gesprochen , (zu Deutsch: stiller als das Wasser und niedriger als das Gras). Ihre Mentalität ist durch die tausendjährige Geschichte und Kultur, wovon wir bloß eine mediale und schulbildiche Vorstellung haben. Das betrifft auch selbstverständlich unsere Erfahrungen und Vorstellungen von der chinesischen Poesie, die uns Europäern oftmals reizlos und primitiv vorkommt, z. B. ein Zen (traditionelle chinesische Gedichtform) aus dem Buch Zen und Haiku von Günter Wohlfart, Reclam, Stuttgart 1977, S. 87:

GEDANKENFLUG

ich weiß nicht
weißer Kranich
weiße Wolken

Wir, die wir von der modernen und postmodernen Poesie , je oller desto doller, erzogen und verdorben sind, haben es verlernt, schlicht, aber inhaltstief Gedichte zu schreiben, zu lesen und zu genießen.
Leider spielt die Poesie in China eine Nischenrolle, und das vielleicht, weil sie immer noch staatlich sanktioniert und produziert wird. Daher ist es fast unmöglich, sich von diesen Fängen zu befreien, geschweige denn die Poesie an das reale Leben anzupassen, was unwillkürlich zur Fügung der Zensur und Praktizieren der Selbstzensur führt, was ich als russlanddeutscher Autor selbst bis zu meiner Auswanderung im Jahr 1990 erlebt und praktiziert habe. Also, kenne ich das viel zu gut: Nur angepasst hatte man Überlebenschancen als Schreiberling. Nur hat einer das mehr, der andere weniger betrieben.
Daher braucht es Mut, neue Wege zu gehen, wenn auch der Tradition und Mentalität verpflichtet. So ist der chinesische Dichter Wang Jiaxin ein belehrendes Bespiel. Die Schlichtheit seines Stils ist bezaubernd, die Tiefe seiner Gedichte einmalig, so z. B. aus dem Buch Nachgereichte Gedichte. Aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin. Bacopa Verlag, Schiedlberg/Austria 2017, S. 80:

Große Mauer, offenes Land

Hier erhält ein Stein sein Gewicht,
hier erhält ein Wort sein Schweigen.
Ja sogar ein unschuldiger Tod erhält
hier seine Würde.

Wir Lebenden aber, ein paar im Brachland,
ein paar auf den Wegen des Abendlichts,
scheinen arme Seelen nur

Wang Jiaxin macht das Profane zum Thema seiner Gedichte, ohne zu poltern, ohne über den Strang zu hauen, ob es um Fische (im Gedicht Das Wasser des Gelben Stromes, S. 15), um einen zugelaufenen Köter (im Gedicht Geschichten vom Schiff, S. 69), um Pferde (im Gedicht Pferde, S. 87) usw. geht. Das scheinbar Banale ist in seinen Gedichten nicht ohne Tiefe, so z. B. das Gedicht Kurzer Abschnitt über den Winter (S. 79):

Meine größte Sehnsucht in diesem Winter
ist die Lektüre einer blitzenden Axt
und die Gunst von so viel Güte.

Bekanntlich ist es einfacher ironische, humoristische und satirische Gedichte zu schreiben als ausgewogene mit einem Tiefgang. Nicht das Schreien und Poltern, nicht die Überraschungsmomente, nicht der Zulauf auf die Pointe, was wir Europäer so mögen, ist bei Wang Jiaxin ausschlaggebend. Es scheint, er hält an statt fortzufahren, so z. B. die Eisstäbchen in meiner Hand sind mal in Bewegung, mal nicht. (im Gedicht Ein Laden für Reisnudeln in Yunnan, S.11). Wang Jiaxin denkt und fühlt einfach anders. Sogar, wenn er die fremde Kultur sich zu eigen macht, kreuzt er sie mit seinen chinesischen Erfahrungen. Und das selbst, wenn er Bilder schafft, s. B. Kein Lüftchen regt sich. Selbst die Steine schwitzen. (im Gedicht Oktobergedicht, S. 16), Ein wenig Röte steht ihnen ins Gesicht geschrieben (im Gedicht Vom Bahnhof den Sohn abholen, 52), Zum Tor hinaus, war da der Wind, / der kam so mächtig, / der trug Salz auf der Zunge. (im Gedicht Gestern abend, S. 58), Unser Fuß / weiß sehr viel mehr / als unser Hirn. (im Gedicht Feiner Sand, grober Sand, 59), So viele unschuldige Leben, so viele / sind nur, ja nur / eine Begleitmusik. (im Gedicht Besuch des Ady Warhol-Museums, S. 83) usw. Das sind ganz andere Bilder als wir sie gewohnt sind.
Er ist ebenfalls ein Meister des Details, so. z. B. im Gedicht Eisfischer, S. 78:
Sie angeln eigens die paar Fische, die um eines Atemzuges willen, / um eines Streifens Helle willen zögerlich zum Eisloch schwimmen. / Freudentaumel gilt den paar Lebewesen an der Angel, / die alsbald auf der festen Fläche bitter mit den Schwänzen schlagen, / bis ihren Kiemen Blut entsickert: Rotgefärbt sind die Häufchen zerstoßener Eiswürfel.
Wang Jiaxin lesend sieht man die Dinge plötzlich mit anderen Augen und mit mehr Respekt. Das zeichnet ihn aus und macht seine Lyrik lesenswert.
Offen gestanden, seitdem ich das genannte Buch aufgenommen habe, habe ich meine Meinung hinsichtlich der chinesischen Poesie radikal geändert und bin der Überzeugung, dass wir russlanddeutsche Dichter, die wir hierzulande mittlerweilen eine millionenfache Volksgruppe repräsentieren, uns daran orientieren könnten.
In Russland ist zurzeit das Interesse an der chinesischen Dichtung der Gegenwart (Shen Haobo, Yang Lian, Han Bo, um nur einige Namen zu nennen) sehr groß. Es wird nicht nur viel auf Russisch übersetzt, sondern sogar a la chinesisch gedichtet.
Hinreißen ließ auch ich mich vor Jahren und schrieb ein paar Dutzend Haikus (Haiküsse, wie ich sie scherzhaft nenne), sammelte sie und gab sie als Buch heraus. Seitdem ist bei mir Funkstille, was die Haikus betrifft.
Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist die russische Lyrik besonders empfänglich geworden und lässt sich von allen Himmelsrichtungen leicht beeinflussen. Adieu, traditionelle russische Dichtung, adieu, Klassiker Puschkin! Als ob es der deutschen Lyrik nach dem zweiten Weltkrieg nicht anders erging. Adieu, Über allen Gipfeln ist Ruh!
Wer kennt nicht den Spruch von J. W. Goethe Wer den Dichter will verstehen,/ Muss in Dichters Lande gehen. Da ich des Chinesischen nicht mächtig bin, kann ich nur schlecht über die Qualität der Übersetzungen der Vielzahl von Übersetzern urteilen. Ganz anders im Falle von Wolfgang Kubin, da bin ich mir sicher. Ich habe ein sehr gutes Gefühl mit ihm, dem Übersetzer, Schriftsteller und Professor für Sinologie, der in Peking, Bonn und Wien lebt.

Dr. Wendelin Mangold,
Königstein im Taunus

Bacopaverlag